DEUTSCHES ARCHIV
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PETER HÜBNER • PREIS DER FREIHEIT – DAS PROGRAMMIERTE VIERTE REICH
Die antidemokratische politische Praxis in Deutschland
Teil 3   •   VERTRETER DES VOLKES – Die Goldene Partei Deutschlands
Die evangelische Medienaffäre


Ganz wie die ge­ni­a­len Dich­ter der Büh­nen­kunst wa­ren sie sich bei dem Er­le­ben je­ner von ih­nen frei er­dach­ten Hand­lun­gen durch­aus der Tat­sa­che be­wußt, daß es sich hier­bei nur um ein geis­tig-sinn­li­ches Er­le­ben han­del­te – wel­ches sie zu je­der Zeit kraft ei­ge­ner Ent­schei­dung nach frei­em Ent­schluß ab­zu­än­dern oder zu be­en­den ver­moch­ten.

Doch hat solch ho­he Er­leb­nis­fä­hig­keit sitt­li­che Kon­se­quen­zen für das Han­deln des ein­zel­nen.
Des­halb kon­zen­trier­ten sich un­se­re Vor­fah­ren bei ih­rer sitt­li­chen Aus­bil­dung auch erst ein­mal auf die Schu­lung ih­rer in­ner­geis­ti­gen Vor­stel­lungs­kraft.

Und den prak­ti­schen Nut­zen sol­cher ge­ziel­ter geis­ti­ger Übun­gen für den ge­sell­schaft­li­chen All­tag wol­len wir uns an dem fol­gen­den ein­fa­chen Bei­spiel ein­mal vor Au­gen füh­ren:

Be­trach­ten wir den kras­sen Fall des Schla­gens: Ei­ner schlägt ei­nen an­de­ren und tut die­sem weh – er macht beim Schla­gen nicht selbst die Er­fah­rung des Ge­schla­gen­wer­dens und des Schmer­zes, wel­chen der an­de­re durch die Schlä­ge ver­spürt.

Der in sei­ner geis­ti­gen Vor­stel­lungs­kraft Ge­üb­te je­doch macht al­lei­ne schon bei sei­ner geis­ti­gen Vor­stel­lung, daß er den an­de­ren schlägt, ei­ner­seits die le­ben­di­ge Er­fah­rung, daß er schlägt – aber auch gleich­zei­tig die un­an­ge­neh­me Er­fah­rung, daß er ge­schla­gen wird.

Und dies hat dann na­tür­lich für sein tat­säch­li­ches äu­ße­res Han­deln weit­rei­chen­de Kon­se­quen­zen: er ist sich des Aus­ma­ßes sei­ner Hand­lung und vor al­lem: der da­mit ver­bun­de­nen Er­fah­rung voll­stän­dig be­wußt: er er­lebt die gan­ze „Ge­schich­te“ mit­samt al­ler Er­fah­run­gen schon in sei­ner Vor­stel­lung so klar und deut­lich, daß ihm dar­auf­hin je­ne tat­säch­lich durch­ge­führ­te phy­si­sche Hand­lung zu­min­dest in sei­nem ei­ge­nen per­sön­li­chen Er­le­ben kei­nen neu­en Ein­druck lie­fern wür­de.
Er macht al­so al­lei­ne bei sei­ner in­ner­geis­ti­gen Vor­stel­lung, daß er schlägt, auch schon gleich die ganz kon­kre­te, für ihn völ­lig re­a­le Er­fah­rung, daß er ge­schla­gen wird.

Und so ver­pflich­tet ihn die­se un­an­ge­neh­me Er­fah­rung des Ge­schla­gen­wer­dens bei sei­nem ers­ten Ge­dan­ken­gang, an­ders zu den­ken.
Und auf die­ser Grund­la­ge wird er dann folg­lich auch an­ders han­deln; denn kein Mensch kann han­deln, ohne erst ein­mal zu den­ken. Je­de Hand­lung wird vor­her durch­dacht.

Des­halb ist das sitt­li­che Aus­bil­dungs­sys­tem un­se­rer Vor­fah­ren so an­ge­legt, daß es dem ein­zel­nen schon al­lei­ne beim ers­ten Über­le­gen ei­ner Hand­lung die voll­stän­di­ge ei­ge­ne Er­fah­rung des Han­delns ver­mit­telt – ihm aber da­mit auch gleich­zei­tig das voll­stän­di­ge Er­le­ben an­de­rer an die­ser Hand­lung Be­tei­lig­ter mit­lie­fert.

Aus die­sem Grun­de wird es schließ­lich das ganz na­tür­li­che Be­mü­hen des ein­zel­nen sein, ei­ne je­de sei­ner Hand­lun­gen schon im An­satz sei­nes Den­kens so zu pla­nen, daß nie­mand von der Hand­lung ver­letzt wer­den kann – denn nur so bleibt auch ihm selbst das Er­le­ben sei­ner ei­ge­nen Ver­let­zung wäh­rend sei­ner Pla­nun­gen er­spart.

Hier­in liegt der tra­di­tio­nel­le sitt­li­che Schlüs­sel un­se­rer Vor­fah­ren für die so­zia­le Aus­bil­dung.
Ei­ne schwa­che An­deu­tung von die­sem Ver­mö­gen, sich in die La­ge ei­nes an­de­ren voll­stän­dig hin­ein­zu­ver­set­zen, fin­den wir noch in den Wor­ten „Mit­ge­fühl“ oder „Mit­leid“ vor.
Aber das tat­säch­li­che Er­le­ben des ge­sam­ten Aus­ma­ßes un­se­res Han­delns – nur al­lei­ne auf­grund un­se­rer in­ner­geis­ti­gen Vor­stel­lung – ist uns mit dem Ver­lust der tra­di­tio­nel­len sitt­li­chen Aus­bil­dungs­pro­gram­me un­se­rer Vor­fah­ren ab­han­den ge­kom­men.

Ein wei­te­res Bei­spiel soll die­sen Sach­ver­halt ver­deut­li­chen:

Je­der von uns kennt die Er­fah­rung, daß ihm die Mit­tei­lung ei­nes Er­eig­nis­ses „auf den Ma­gen schlägt“. Wir ken­nen al­so das Phä­no­men ei­nes tat­säch­li­chen phy­si­schen Un­wohl­seins al­lei­ne durch ei­nen „geis­ti­gen Ein­druck“. Dies be­kun­det uns, daß un­ser Den­ken in un­se­rem Ner­ven­sys­tem schwer­wie­gen­de Re­ak­tio­nen aus­zu­lö­sen ver­mag.

Des­halb be­in­hal­ten die tra­di­tio­nel­len sitt­li­chen Aus­bil­dungs­pro­gram­me un­se­rer Vor­fah­ren ei­ne sys­te­ma­ti­sche und ge­ziel­te Bil­dung der Er­kennt­nis- und Schaf­fens­fä­hig­keit – im ob­jek­ti­ven Sin­ne –, wel­che bis in den phy­si­schen Be­reich un­se­rer Exis­tenz hin­ein­reicht.

Wenn al­so – um auf das vo­ri­ge Bei­spiel zu­rück­zu­kom­men – ein sitt­lich ge­bil­de­ter Mensch un­ter un­se­ren Vor­fah­ren auch nur den Ge­dan­ken heg­te, ei­nen an­de­ren zu schla­gen, dann mach­te er – auf­grund sei­ner sitt­li­chen Bil­dung – beim Durch­den­ken die­ses Ge­dan­kens auch schon bei sich selbst die phy­si­sche Er­fah­rung des Schla­gens und des Ge­schla­gen­wer­dens.

Nur in die­sem „au­to­ma­ti­schen“ Er­le­ben des ge­sam­ten Aus­ma­ßes ei­ge­nen Han­delns – auch schon al­lei­ne bei der Vor­stel­lung bei­spiels­wei­se des „Schla­gens“ – sa­hen un­se­re Vor­fah­ren ei­ne re­a­le Mög­lich­keit, je­nes so­zia­le Fehl­ver­hal­ten zu ver­hin­dern – ja über­haupt den Ge­dan­ken an das Ver­let­zen zu brem­sen.

Der ei­ne oder an­de­re mag nun den­ken: „Ich kann mir wohl vor­stel­len, daß ich bei ge­ziel­ter Aus­bil­dung je­ne mit mei­ner ei­ge­nen Hand­lung ver­bun­de­ne per­sön­li­che Er­fah­rung ma­chen kann – bei­spiels­wei­se die Er­fah­rung, daß ich selbst schla­ge.
Aber wie soll ich des­halb auch gleich­zei­tig die Er­fah­rung ma­chen, daß ich ge­schla­gen wer­de? Und da­zu auch noch au­to­ma­tisch?

Der Traum zeigt uns sehr deut­lich, wie bei­de Er­fah­run­gen gleich­zei­tig mög­lich sind: im Traum liegt der ein­zel­ne im Bett, hat die Au­gen ge­schlos­sen und schläft bzw. träumt. Und was träumt er? Er träumt sich selbst, aber gleich­zei­tig auch noch vie­le an­de­re.

Die­se Tat­sa­che be­kun­det, daß un­ser Vor­stel­lungs­ver­mö­gen und un­se­re Er­fah­rungs­fä­hig­keit nicht nur auf uns – als ei­ne ein­zel­ne Per­son – be­schränkt sind.

Und wie der Träu­men­de – oder wie der ge­ni­a­le Dich­ter –, so kann sich je­der sitt­lich Ge­bil­de­te gleich­zei­tig in die Rol­len und Er­fah­run­gen meh­re­rer Per­so­nen hin­ein­ver­set­zen – so­wohl hin­ter­ein­an­der als auch gleich­zei­tig.









Mit freundlicher Genehmigung des HESSISCHEN LANBOTEN
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